Wer waren die Gefangenen?

"Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen"

Paragraph 1 und 2 des sog. Heimtückegesetzes.
Die Paragraphen stellten unwahre Behauptungen und negative öffentliche Aussagen über die Reichsregierung, die NSDAP oder ihre Einrichtungen unter Strafe. Das vollständige Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934 finden Sie hier.
(Quelle: Archiv der Gedenkstätte Esterwegen)

Die Zusammensetzung der Gruppe der Gefangenen und ihre Veränderungen standen in engem Zusammenhang mit der Funktion und Nutzung des Lagers. Im Strafgefangenenlager II Aschendorfermoor wurden zunächst Strafgefangene inhaftiert, die aus unterschiedlichen Gründen von einem Gericht zu einer Haftstrafe verurteilt worden waren. Fast 80% der Gefangenen zwischen 1934 und 1939 waren aufgrund krimineller Delikte verurteilt worden. Nicht selten spielten bei der Strafzumessung jedoch auch nationalsozialistisch bewertete Persönlichkeitsmerkmale oder die politische Vergangenheit eine große Rolle. Besonders nach Kriegsbeginn 1939 wurden mitunter auch für kleinere Vergehen drakonische Urteile verhängt. Die anderen 20% der Gefangenen wurden aufgrund neuer, vom NS-Regime geschaffener Straftatbestände, wie beispielsweise 'Vorbereitung zum Hochverrat', 'Heimtücke' oder 'Homosexualität' verurteilt. Bereits kurze kritische Äußerungen über die NS-Führung oder den Kriegsverlauf 1939 konnten für eine lange Haftstrafe ausreichen.

Nachfolgend werden beispielhaft die Schicksale von zwei Gefangenen vorgestellt:

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Bernhard Börgermann, *23. April 1909, Lingen; † 20. April 1980, Lingen.
(Quelle: Niedersächsisches Landesarchiv - Abteilung Osnabrück, Rep 430 Akz 902 2003/068, Nr. 258)

Viele politisch aktive Männer wurden wegen 'Vorbereitung zum Hochverrat' verurteilt, weil sie sich beispielsweise für die nun verbotenen Parteien SPD sowie KPD oder einfach gegen die NS-Führung engagierten. Bernhard Börgermann war einer der Gefangenen, die wegen 'Vorbereitung zum Hochverrat' verurteilt wurden.

Bernhard Börgermann wuchs in Lingen auf und arbeitete später als Schafhirte und Traktorfahrer. Bis zum Verbot 1933 war er Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Am 20. Mai 1933 wurde er wegen Beleidigung des Reichskanzlers Adolf Hitler verhaftet und in das KZ Moringen überführt, wo er am 30. September 1933 entlassen wurde. Danach arbeitete er wieder in Lingen, musste sich aber regelmäßig bei der Polizei melden. Dies hielt ihn nicht davon ab, sich einer Widerstandsgruppe anzuschließen, die Flugblätter verteilte, aber bereits Ende 1934 aufflog. Daraufhin kam es 1935 zu einem Massenprozess vor dem Sondergericht Hamm. Die Richter verurteilten insgesamt 25 Angeklagte wegen 'Vorbereitung zum Hochverrat'. Börgermann erhielt fünfeinhalb Jahre Haft und wurde im Juni 1935 im Strafgefangenenlager V Neusustrum und später im Strafgefangenenlager II Aschendorfermoor interniert. Als die Haftstrafe am 10. Juni 1940 endete, kam es nicht zur Entlassung, sondern die Gestapo Osnabrück verhängte Schutzhaft und die Überstellung in das KZ Sachsenhausen. Im November 1944 wurde Börgermann als Häftling für das SS-Sonderkommando Dirlewanger zum Kampfeinsatz zwangsrekrutiert und geriet 1945 kurzzeitig in Kriegsgefangenschaft.

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Karteikarte der Gestapo Osnabrück zu Bernhard Börgermann, auf der unter dem Punkt "Sachverhalt" die Inhaftierungen Börgermanns festgehalten sind. Auf der Rückseite ist die Überstellung aus dem Strafgefangenenlager II Aschendorfermoor in das KZ Sachsenhausen vermerkt. (Quelle: Niedersächsisches Landesarchiv - Abteilung Osnabrück, Rep 439, Nr. 3623)

Börgermann heiratete und hatte mit seiner Frau zwei Kinder. Er arbeitete in Lingen als Angestellter und bekam eine Rente aufgrund körperlicher Spätfolgen aus der Haftzeit. Zusätzlich erhielt er eine Haftentschädigung von 19.500 DM.
Zusammen mit einem anderen ehemaligen Häftling enttarnte er 1950 den früheren SS-Mann Bernhard Rakers, der in einer Lingener Bäckerei arbeitete. Rakers gehörte zur Lager-SS der Konzentrationslager Esterwegen, Sachsenhausen und Auschwitz. Das Landgericht Osnabrück verurteilte ihn 1953 zu lebenslanger Haft.
Bernhard Börgermann starb 1980 in Lingen.

Die politischen Gefangenen der Emslandlager wurden von Juli 1937 bis Mai 1940 geschlossen im Lager II Aschendorfermoor untergebracht. Unter ihnen konnte sich teilweise ein enger Zusammenhalt und eine solidarische Lagergemeinschaft entwickeln. Für die Lagerleitungen und die Wachmannschaften waren alle Gefangenen meist nur "asoziale Elemente"1, weil sie außerhalb der NS-Volksgemeinschaft standen.

Mit Kriegsbeginn transformierte sich die Gruppe der Gefangenen. Ab 1940 kamen vermehrt deutsche Soldaten, die von Gerichten der Wehrmacht verurteilt worden waren, in die Emslandlager und in das Lager II Aschendorfermoor. Die Tatvorwürfe hießen häufig Desertion, 'Wehrkraftzersetzung' oder 'militärischer Diebstahl'. Als 'Wehrkraftzersetzung' wurden Kriegsdienstverweigerung, Selbstverstümmelung2 oder auch regimekritische Äußerungen verstanden.

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Zugangskarte des Lagers I Börgermoor für Wilhelm Knemöller vom 23. Februar 1943. Im oberen Bereich der Zugangskarte lassen sich personelle Angaben zu Knemöller wie Geburtsdatum und -ort, Beruf und Anschrift finden. Auch sein Vater und dessen Anschrift ist als nächster Angehöriger angegeben. Oben rechts in der Ecke steht Knemöllers Gefangenennummer. Er war der 941. Gefangene, der im Jahr 1942 im Lager I Börgermoor interniert wurde.

Im unteren Bereich der Zugangskarte stehen weitere Informationen über seine Haftstrafe. Dort sind die zuständige Behörde, das Datum seiner Verurteilung und die Dauer seine Strafe angegeben. Der Vermerk "wehrunwürdig" bedeutete, dass Knemöller durch seine Verurteilung von der Wehrmacht ausgeschlossen war und deshalb in den zivilen Strafvollzug überstellt wurde. Die eigentliche Strafverbüßung sollte erst nach Kriegsende beginnen, was bedeutete, dass die vorherige Haftzeit nicht auf die Strafzeit angerechnet wurde.
(Quelle: Niedersächsisches Landesarchiv - Abteilung Osnabrück, Rep 947 Lin II, Nr. 3543)

Wilhelm Knemöller war einer dieser Soldaten im Lager II Aschendorfermoor: 

1924 in Osnabrück geboren, besuchte er zunächst die Volksschule und begann 1938 eine Ausbildung zum Seiler. Er schloss die Ausbildung jedoch nicht ab, da er sich freiwillig zum Wehrdienst meldete. Am 1. März 1942 kam er zur Kriegsmarine. Nach einer kurzen Grundausbildung kommandierte die Marine ihn mit 18 Jahren Ende April 1942 zur Küstensicherungsflottille Ostland. "Das Führungszeugnis bezeichnet ihn als einen stillen und zaghaften Soldaten, der zwar guten Willen [zeigt,] aber nur schwache Leistungen erbringt. Seine Führung wird mit 'gut', seine Diensttüchtigkeit mit 'genügend' bewertet."3

Am 14. August 1942 wurde Knemöller festgenommen. Vor dem Feldgericht des Marinebefehlshabers Ostland lautete der Vorwurf gegen ihn, dass er den Brief eines anderen Soldaten, der "äusserlich sichtbar Zigaretten enthielt"4, entwendet habe. Das Feldgericht verurteilte ihn daraufhin wegen schweren 'Kameradendiebstahls' zu zwei Jahren Zuchthaus. Mildernde Umstände wegen des jugendlichen Alters wurden abgelehnt, weil „die Wegnahme eines Feldpostbriefes [...] einen so schwerwiegenden Verstoss gegen kameradschaftliche Grundpflichten"5 darstelle.

Im Januar 1943 kam Knemöller in das Lager II Aschendorfermoor und am 23. Februar 1943 in das Lager I Börgermoor. Die Haftbedingungen verschlechterten sich in den ersten Kriegsjahren merklich und die Sterberate unter den Gefangenen stieg aufgrund mangelnder Hygiene, Verpflegung und Krankheiten rapide an. Für die Strafgefangenenlager und ihre Außenkommandos geht die Forschung derzeit von ca. 2.300 Toten aus. Auch Wilhelm Knemöller erkrankte in den Emslandlagern mehrfach, sodass er von der Zwangsarbeit freigestellt wurde. Aufgrund eines Gesuchs zur Frontbewährung vom 6. Oktober 1943 kam er zu einer Bewährungseinheit der Wehrmacht.

Wilhelm Knemöller starb am 4. März 1945 in einem Armeelazarett in Ostpreußen.

Nach der alliierten Befreiung der ersten Lager im Emsland und in der Grafschaft Bentheim im März und April 1945 wurde das Lager II Aschendorfermoor zunehmend zu einer Sammelstelle für die Gefangenen, die kurz zuvor auf 'Evakuierungsmärsche' in Richtung Norden geschickt worden waren. Dadurch ergab sich um den 10. April 1945 herum eine starke Überbelegung des Lagers, welches mittlerweile auf eine Zahl von ca. 3.000 Gefangenen angewachsen war.

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[1] Wiedemann, Wilfried (2017): Die Strafgefangenen der Justiz im Emsland 1934-194, in: Faulenbach, Bernd / Kaltofen, Andrea (Hrsg.): Hölle im Moor. Die Emslandlager 1933-1945. Göttingen: Wallstein-Verlag, S. 133.

[2] Viele deutsche Soldaten verstümmelten sich während des Zweiten Weltkrieges selbst, um sich so dem Wehrdienst entziehen zu können. Sie verletzten absichtlich ihre Gliedmaßen oder aßen Gegenstände. Auch in den 'Emslandlagern' ist es zu Selbstverstümmelungen gekommen. Die Gefangenen versuchten auf diese Weise, der harten Zwangsarbeit zu entkommen.

[3] Begl. Abschrift des Feldurteils gegen Wilhelm Knemöller vom 16. Oktober 1942, in: NLA OS, Rep. 947 Lin II, Nr. 3543.

[4] Begl. Abschrift des Feldurteils gegen Wilhelm Knemöller vom 16. Oktober 1942, in: NLA OS, Rep. 947 Lin II, Nr. 3543.

[5] Begl. Abschrift des Feldurteils gegen Wilhelm Knemöller vom 16. Oktober 1942, in: NLA OS, Rep. 947 Lin II, Nr. 3543.